Liebe ökumenische Volkswagen-Gemeinde, liebe Evangelische Freikirchengemeinde Kreuzheide, liebe Donnerstagabend-Gemeinde,
den Frieden jagen, so lautet unser Motto. Ein biblisches Motto, nachempfunden der Jahreslosung aus Psalm 34: „Suche Frieden und jage ihm nach.“ Was mich an diesem Wort anzieht und umtreibt, ist das Jagen. [„no hunting except for peace“]
Den Frieden jagen. Ich selber bin kein Jäger, überhaupt nicht. Ich bin eher einer von denen, die viel lieber drin bleiben im Warmen und abwarten, bis die Jäger nach Hause kommen. Ein Stubenhocker. Auf die Pirsch gehen, womöglich mit Waffen, das ist nicht mein Ding, das muss ich nicht haben. Aber dennoch, diese drei Worte packen mich: Den Frieden jagen. Nicht den Frieden finden oder machen oder lieben, nicht den Frieden riskieren oder aushalten oder verhandeln, nicht den Frieden erarbeiten oder anbieten oder verwerfen. Sondern: den Frieden jagen. So wie ein Jäger eine Beute jagt.
Kennen Sie das Paläon? Das Museum in Schöningen am Elm? Dort hat man vor 20 Jahren prähistorische Speere gefunden, aus der Steinzeit. Tatsächlich handelt es sich um die ältesten erhaltenen Jagdwaffen der Menschheit überhaupt, die dort in Schöningen gefunden wurden und heute ausgestellt werden. Wenn man dort in dieses Museum geht, sieht man diese Speere, 300 000 Jahre alt. Und man erlebt eine Ausstellung über das Leben in der Altsteinzeit. Das Leben der Menschen vor 300 000 Jahren – absolut faszinierend! Dabei sieht man auch, was es damals bedeutete zu jagen, ein Jäger zu sein: Wer jagen wollte, der musste schnell sein. Fast so schnell wie die Wildpferde, die die Menschen damals dort jagten und manchmal auch erlegten. Die Jäger mussten nämlich laufen, rennen, rasen – und dann: den Speer werfen. Denn die Beute war schnell, schnell wie ein Pfeil, schnell wie ein Wildpferd. Der Speer aber, den man warf, der war dann wie ein Turbomotor: Er machte die Jäger gewissermaßen noch schneller, die Waffe katapultierte den Jäger gewissermaßen nach vorne, sie war sein verlängerter, beschleunigter Arm mit tödlicher Spitze. Schnell wie ein Speer.
Dieser Steinzeitmensch von Schöningen ist es, an den ich denke bei unserem Psalmwort. Nicht der Jäger von heute, auf dem Ansitz, mit Zielfernrohr und scharfer Munition und viel Zeit. Nein, der echte Jäger von damals, er läuft, er rennt, er verfolgt, er rast so schnell er kann. Er ist die wilde Jagd.
Den Frieden jagen. Offensichtlich muss man ihn jagen, diesen Frieden, und zwar genau so wie die Jäger der Steinzeit damals. Man muss ihm hinterherrennen, dem Frieden, so wie einem Wildpferd. Denn der Frieden selbst ist unglaublich schnell, pfeilschnell, wie ein Wildpferd. Er rast an uns vorbei. Gemütlich auf dem Hochsitz hocken und abwarten und durchs Fernrohr schauen, das reicht nicht für den Frieden. Dafür ist der Frieden viel zu schnell. Nein, man muss runter vom Sitz. Man muss laufen. Schnell laufen, sehr schnell. Und weit. Sehr weit. Sonst ist er weg, der Frieden, futsch. „Suchet den Frieden und jagt ihm nach!“
Es ist eine ungewohnte Art, über den Frieden zu sprechen und ihn sich vorzustellen, nicht wahr? Aber wie stellen wir uns den Frieden überhaupt vor? Ist Frieden so etwas wie Ruhe oder Harmonie? Oder wie In-Ruhe-gelassen-Werden? Wie eine Schmerzfreiheit? Oder vielleicht eher wie Versöhnung?
Ich habe den Eindruck, dass wir gegenwärtig überhaupt nicht viel über den Frieden sprechen und nachdenken. Andere Themen sind wichtig, drängend. Das Klima zum Beispiel. Das scheint wirklich richtig drängend zu sein. Die Uhr tickt, sagen die Forscher und die Nachrichten. Und vielleicht ist es auch nicht mehr 5 vor 12, sondern schon 5 nach 12 für das Klima und die Umwelt. Aber der Frieden? Drängt der auch so? Ja, der drängt auch, aber wir merken es kaum, oder wir merken es nicht gemeinsam. In der Ostukraine herrscht Krieg, im Jemen herrscht Krieg, in Lybien, an vielen anderen Orten. Ja, der Frieden drängt auch, aber anders. Der Frieden hat keine Uhr, die abläuft. Sondern der Frieden ist etwas, was selbst läuft, was uns davonläuft, , was uns aus den Händen gleitet, was wir kaum festhalten können. Der Frieden ist eine kostbare Gabe, eine Gabe Gottes, aber immer auf der Flucht, auf der Flucht vor dem Krieg.
Wie stellen wir uns den Frieden vor? Ist Frieden nicht das, was zwischen uns Menschen ist und steht und lebt? Die Form unserer Beziehung? Die Form unserer Beziehung, in der wir einander gelten lassen können, in der wir einander anerkennen können, als Gleichwertige. Diesen Frieden brauchen wir in allen unseren Beziehungen. In der Familie und in der Partnerschaft. Im Ort und im Stadtteil. Im Betrieb, mit den Kollegen an der Arbeitsstelle. Und im ganzen Land und auf dem ganzen Kontinent. Und noch darüber hinaus. Wenn Frieden das ist, was zwischen uns ist, zwischen dir und mir, zwischen dem Kollegen und der Kollegin, wieso ist es dann so schwer, den Frieden zu halten, ihn einzufangen?
Wie ist das mit dem Frieden an der Arbeitsstelle? In einem modernen Betrieb gibt es ja Einrichtungen und Mechanismen, um den Betriebsfrieden sicherzustellen. Z.B. die Tatsache, dass nicht einfach nur der Arbeitgeber alles entscheiden kann, sondern dass die Arbeitnehmer Mitsprache haben, über den Betriebsrat und die Gewerkschaft. Und natürlich auch einfach als erwachsene, mündige Menschen. Diese Einrichtungen und Rechte erscheinen uns vielleicht als selbstverständlich. Aber Generationen von Arbeitern und Demokraten haben dafür gekämpft und gestritten und gestreikt. Und in vielen anderen Ländern der Welt sind diese Grundrechte immer noch längst nicht durchgesetzt, müssen Männer, Frauen und Kinder unter unmenschlichen Bedingungen und ohne jede Mitspracherechte ihre Arbeit tun. Damit wir hier billige T-Shirts und Jeans kaufen können. Der Frieden braucht Rechte. So wie ein Lasso oder ein Seil, mit dem man die Wildpferde einfängt.
Aber auch Rechte und Vereinbarungen garantieren noch keinen Frieden. Denn in einem tieferen Sinne ist der Frieden etwas sehr Persönliches und Unverfügbares. Der Frieden braucht den Willen, einander gelten zu lassen, einander anzuerkennen, sich aufeinander einzulassen. Ich weiß nicht, wie Ihnen dies an Ihrer Arbeitsstelle gelingt. Wahrscheinlich ist vom Frieden dabei auch meistens gar nicht die Rede. Aber andererseits, vielleicht ist immer dann, wenn von Team und Teamarbeit die Rede ist, eigentlich der Frieden gemeint: nicht der Frieden der Harmonie, in der die Leute sich gegenseitig in Ruhe lassen, sondern der Frieden, der darin besteht, gemeinsam etwas geschafft zu haben, gemeinsam ein Ziel zu verfolgen. Der Frieden einer Gemeinschaft, und sei es auch eine Arbeitsgemeinschaft im Betrieb. Frieden heißt auch, Fähigkeit zur Gemeinschaft, zur echten menschlichen Gemeinschaft. Frieden ist das zwischen den Menschen, das Gemeinsame.
„Meinen Frieden gebe ich euch“, hat Jesus Christus einmal gesagt. Da ist vom Geben die Rede, nicht vom Jagen. Also das, was zwischen uns Menschen steht, die Qualität unserer Beziehungen, das Zwischenmenschliche, das ist zugleich das, was wir gar nicht selber herstellen können. Sondern was wir nur von Christus bekommen können, nur von ihm allein. Deshalb sagt er: „Meinen Frieden gebe ich euch.“ Ein Frieden nicht von dieser Welt, aber für diese Welt. Für unsere Welt, zwischen uns, zwischen dir und mir, zwischen Boss und Arbeiter, zwischen Reichen und Armen, zwischen Europa und Afrika.
Meinen Frieden gebe ich euch. Ich glaube, auch dieser wahre Friede, der von Christus kommt, ist keine einfache Harmonie oder Schmerzfreiheit, und auch keine Freiheit von Konflikten. Es ist auch kein Frieden, den einer nur für sich alleine haben könnte. Sondern es ist eine Form der Gemeinschaft mit den anderen Menschen. Eine Form der Gemeinschaft, die wir oft nicht haben. Aber von der wir etwas wissen, von der wir etwas ahnen. Eine Form der menschlichen Gemeinschaft, die wir suchen, die wir brauchen, die wir jagen. Und die uns immer wieder entgleitet, entschlüpft, fortläuft. Der Frieden ist schnell, wie die Wildpferde.
Das ist die Spannung, in der wir leben: Einerseits den Frieden zu jagen, mit aller Kraft, mit allen Muskeln und aller Konzentration – und zugleich den Frieden, den wahren Frieden, tatsächlich nur geschenkt zu bekommen. Er wird uns gegeben. Wir jagen dem Frieden nach, und er läuft uns davon, weil er so schnell ist, aber dann legt jemand ihn uns in die Hände. Manchmal geschieht genau dies. Wenn Menschen sich versöhnen nach einem langen Streit. Wenn Menschen, die nie eine Chance hatten, plötzlich eine neue Möglichkeit in ihrem Leben entdecken. Wenn eine Gruppe von Menschen, die gemeinsam müde geworden sind, die nichts Neues mehr erwarten, wenn in diese Gruppe plötzlich ein neuer Geist, ein neuer Wind einkehrt, eine neue Kraft, ein neues Ziel, und das alles vielleicht nur, weil eine neue Person dazugestoßen ist, vielleicht weil sich die Konstellationen oder die Menschen selbst verändert haben, vielleicht weil … irgendetwas anders, neu wurde. „Meinen Frieden gebe ich euch“, sagt Jesus. Er hat Kraft, Menschen zu verändern. Uns zu verändern. Durch seine Gabe. Er selbst ist diese Gabe, die er uns gibt und die uns verändert.
Darauf hoffe ich, darauf setze ich. Dass ER mich verändern kann, jeden und jede von uns. Und uns alle gemeinsam. Dass er unsere Gemeinschaft verändern kann, durch das, was er in uns ändert, anstößt, neu macht, durch das, was er uns gibt. Darauf setze ich, daran glaube ich. Dass Christus wirklich zwischen uns tritt und selbst zum Frieden der Menschen wird. Im Betrieb, in der Familie, im Land. Er tut dies in vielen Formen, unter vielen Namen, in vielen Sprachen und ja, in vielen Religionen. Gemeinsam mit uns jagt er den Frieden. Er ist der Jäger an unserer Seite. Und er läuft und rennt. Und er ist schnell, viel schneller als ich und du. Schnell wie der Frieden. Er fängt ihn ein, er bringt ihn zur Strecke. Und haucht ihm neues Leben ein.
Den Frieden jagen. Das will ich tun, mit neuer Kraft und neuem Mut in dieser zweiten Jahreshälfte. Mit Christus, dem Gottessohn und Friedefürst, an meiner Seite. Und vielleicht finden auch Sie neuen Mut und neue Kraft, diesem Frieden hinterherzujagen. Genau dort, wo Sie leben und arbeiten. Dort wo Sie lieben und leiden. Dort wo Sie zusammen mit anderen Menschen sind. Dort wo Sie spüren, dass ER zwischen Sie tritt und Frieden schafft. Und dieser Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus unserm Herrn. AMEN